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Foto: 2004rdsDenn die Demokratie ist noch niemals durch mächtige Organisationen vor dem Verfall bewahrt worden. Sie wird nur so lange bestehen, als sie von den Menschen mitgetragen wird.

Ludwig Erhard (1897-1977)

Der Zustand einer Demokratie läßt sich am Herzschlag ihrer politischen Öffentlichkeit abhorchen.                                   Jürgen Habermas





Demonstration "Freiheit statt Angst", Berlin 7. September 2013; Foto: rds2013

Die Wiederbelebung der müde gelaufenen oder gar schon tot geglaubten Demonstration "FREIHEIT STATT ANGST"  - Stoppt den Überwachungswahn! - ist 2013 eindrucksvoll gelungen! Denn: "FREIHEIT BRAUCHT MUT", den haben deutlich zigtausende Bürger und Bürgerinnen aus dem ganzen Bundesgebiet am 7. September in Berlin bewiesen und bekräftigt. Auch wenn die angemeldete und erhoffte Teilnehmerzahl von bis zu Dreißig Tausend bei weitem nicht erreicht worden ist.

Demonstration "Freiheit statt Angst", Berlin 7. September 2013; Foto: rds2013Auffallend war, im Gegensatz zu vormaligen FSA-Demonstrationen, die diesmal sehr dezente und zurückhaltende Präsenz der Berliner Polizeikräfte. Keine Polizeitruppen in kompletter und einschüchternder Kampfmontur an jeder Straßenecke, wie in den Vorjahren teilweise massiv üblich. So konnte ein lautstarker, friedlich agierender Protestzug, ohne sich durch martialisches Auftreten provoziert zu fühlen, durch den östlichen Innenstadtbereich von Berlin ziehen. Ausgehend vom Alexanderplatz und dorthin zur Abschlußkundgebung zurückkehrend. 

Demonstration "Freiheit statt Angst", Berlin 7. September 2013; Foto: rds2013Aus dem Blickwinkel der Datenschützer, wurden in Reden die fortdauernden NSA-Enthüllungen thematisiert, naheliegend auch die bevorstehende Bundestagswahl am 22. September mit klaren Wahlempfehlungen bedacht. Mit großer Aufmerksamkeit und besonderem Zuspruch, wurde der Beitrag des Englisch sprachigen Gastredners und Internetaktivisten Jacob Appelbaum zur Kenntnis genommen und bejubelt.

Ganz am Rand und ohne im Zusammenhang mit der Veranstaltung der Datenschützer stehend, trug eine Seniorin unbeirrt und ruhigen Schritts ihre politische Botschaft in Din-A-4-Format ausgedruckt über Brust und Rücken gehängt über den sehr belebten Alexanderplatz: FRAU MERKEL IST NICHT SYSTEMRELEVANT! Da kann man nur noch hinzufügen: UND HERR RÖSLER IST FÜR EINE 'ANSCHLUSSVERWENDUNG' NICHT TRAGBAR!

rds 09.09.2013                                              weitere Fotos hier

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WACHWECHSEL !

Jetzt steht nicht mehr der Russe, jetzt steht der Amerikaner vor der Tür!

Alle in die abhörsicheren Bunker!

Every day  and every night the NSA is on your side!

And who's side you're on Mrs. Merkel?

rds 01.07.2013


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Demonstration:

F R E I H E I T   S T A T T   A N G S T

Berlin,  ( NEU !): Alexanderplatz (Karl-Marx-Allee), Samstag, 7. September 2013, 13.00 Uhr

http://blog.freiheitstattangst.de

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M A R K T F Ü H R E R   D E R   I N N E R E N   S I C H E R H E I T  [1]


"Gerade im Bereich der Datenerhebung und des Einsatzes technischer Mittel folgt die Gesetzgebung dem Prinzip: Was technisch möglich ist, soll auch rechtlich erlaubt sein." [2]


Niedersachsen ist ein ganz besonderes Bundesland. Ein Flächenland, weitgehend agrarisch geprägt, und die Menschen sind "Sturm und Erd' verwachsen". Und seine Politiker? Ein echter Hiesiger aus Osnabrück, ein ehemaliger Ministerpräsident, hat sich in der Seifenblasenpracht des höchsten Staatsamtes im Staate, in Berlin, präsidial eingerichtet und gibt doch nur zu erkennen, welch ein Fliegengewichtler im politischen Boxring er eigentlich war und geblieben ist. Dabei ist diese Gewichtsklasse ehedem schon weit überbesetzt.

Da jede politische Herrschaft, auch die demokratische, auf die Anerkennung durch die Herrschaftsunterworfenen angewiesen ist, bedient sie sich regelmäßig neben der Polizei, dem Militär und den Geheimdiensten auch des "schönen Scheins" von Bildern und Erzählungen, Mythen und Repräsentationen. [3] Der schöne Schein kostet auch schönes Geld, und zwar dem mit Steuern- und Abgaben belasteten Bürger. Neben dem Salär des amtierenden Bundespräsidenten, kommen noch die jährlichen Zuwendungen in Höhe von ca. 200.000 € an die vier Alt-Bundespräsidenten Köhler, Herzog, von Weizäcker und Scheel, ganz abgesehen von den Kosten für ein Büro, samt Sekretärin und einem standesgemäßen Fahrzeug - für einen jeden -  hinzu.

Nun mag Herr Wulff aus Niedersachsen nur noch für den schönen Schein zuständig sein, für die Repräsentation nach Innen und Außen, ersatzkaiserlich und selbstverliebt für Hochglanzbilder zusammen mit seiner liebreizenden Frau sorgen und für den mythischen Sammelbegriff von einer "freiheitlich demokratischen Grundordnung" in dieser (dritten?) deutschen Republik plakativ stehen. [4] Vielleicht hat er sich einen Ausspruch von Carl Friedrich von Weizäcker auf seiner ganz persönlichen Weise zu eigen gemacht: Um das Leben zu verstehen, muß man sich am Leben beteiligen.

Ganz anders aufgestellt ist da der in Stadtoldendorf geborene Uwe Schünemann. Vom damaligen, 2003 frisch ins Amt des Ministerpräsidenten gewählten Christian Wulff, ins Kabinett als Innenminister berufen. Wo er heute noch residiert und den sicherheitspolitischen Wettbewerb um die Marktführerschaft bei der innereren Sicherheit eröffnet hat: Polizeifahndung läuft jetzt auch über Facebook.

Ist der Minister da ein stolzer und affirmativer Vorreiter von modernen Fahndungsmethoden oder schon einer von den offenen oder verdeckten Wegweisern in die Sicherheitsgesellschaft? [5] Geht es von der Suche nach dem gemeinen Verbrecher und Straftäter als Vergewaltiger, Totschläger oder räuberischen Erpresser übergangslos zur politischen Gefahrenabwehr, auf die Jagd zum erklärten "Verfassungsfeind" oder staatsgefährdenden Terroristen?

Bis in die kleinsten Ritzen und die verborgensten Nischen des Daseins dringt das sogenannte "Expertentum" ein. "Experten" mit oftmals nur einem großen Unsachverstand. Aus den ehemals selbstbewußt Wissenden, werden verunsicherte Unwissende gemacht; aus den gelegentlich Ratlosen, permanent Ratsuchende. Infantilisierung und allgegenwärtiges "Tittytaiment" (Zbigniew Brzezinski) [6] - eine Form neutralisierender Ablenkungskultur auf niedrigem Niveau - prägen die Gegenwart und das Alltagsleben Vieler. Die scheinbar unbeeinflußte, autonome Selbststeuerung des Individuums entpuppt sich als eine in die psychische Tiefenstruktur eingeprägte Wertskala, als die Handlungsanleitung der normierten Gegenwartsgeselllschaft und ihrer Führer und Symbolfiguren, denen trotz beständigen Normenvertrauenverlustes geglaubt und gefolgt wird. So ist der Kompetenz- und Autonomieverlust eine begleitende Entwicklung beim Drift tiefer in eine präventive Sicherheitsgesellschaft.

Die beständige Aufrechterhaltung eines äußeren und inneren Bedrohungspotenzials [7] ist einer der wesentlichen Kernpunkte für die Plausibilität und Rechtfertigung einer sich durchgängig verschärfenden und erweiterbaren Sicherheitsarchitektur. Ökonomisierung, Marktausrichtung und Privatisierung sind dabei Wegbegleiter hin zu einem Ideal von Sicherheit, das es natürlich nicht geben kann. "Es gibt keine heile Welt. Abweichendes Verhalten ist ein normaler Bestandteil jeder von sozialen Regeln geprägten Gesellschaft und für diese funktional." [8]

Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Angst des Staates vor Bedrohungen gegen seinen Bestand und seine gesellschafts-politische Verfaßtheit und den "Sekuritätsbedürfnissen" seiner Bürger. Die Bedrohungsangst des Staates -tatsächlich oder herbei fabuliert - ist nicht neu. Erinnert sei an die von der "Rote Armee Fraktion" (RAF) geprägten bundesrepublikanischen 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die "bleierne Zeit". In ihrem Fluß wurden aber auch noch ganz andere Befürchtungen vorgetragen. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Günter Nollau, artikulierte damals: "Das Bewußtsein der Massen wird eines Tages reif sein zu erkennen, daß ihre Arbeitsbedingungen, insbesondere die Folgen der Arbeitsteilung - inhuman - sind, das heißt ihrer Lage als ganzheitlich menschliche Wesen nicht entsprechen. Wenn dieses Gefühl von einer politischen Bewegung umgesetzt werden kann in eine massenhafte Empörung gegen diese Ungerechtigkeit, dann wird die Lage kritisch. Gegen Terroraktionen kleiner Gruppen kann unsere Gesellschaft ihr Zwangsmittel einsetzen. Ob unsere Demokratie die Kraft hätte, Maschinengewehre gegen revoltierende Arbeitermassen zu richten, bezweifle ich. Ein Noske, der 1919 erklärte: 'Einer muß den Bluthund machen', scheint mir nicht in Sicht." [9]

Maschinengewehre sind nicht (mehr) nötig. Weder gegen (halluzinierte) "aufständische Arbeitermassen", noch gegen Mitglieder und Sympathisanten der Occupy-Bewegung, noch gegen sonst welche Demonstranten allerorts. Ein Staat mit technisch hochgerüsteten Kontrollinstanzen, dem informationellen Datenverbund zwischen Polizei, BKA und Geheimdiensten, unter dem Label der "neuen Sicherheitsarchitektur" konstruiert, einer breiten Palette von Ermächtigungen zu weit streuenden Informationseingriffen (Frankenberg) und einem Recht, das heute "zunehmend als Mittel zur Erweiterung staatlicher Möglichkeiten und zur Begrenzung der Rechtssphäre des Bürgers eingesetzt" wird [10], kann nur als ultima ratio auf gewalttätige Mittell zurückgreifen. "Denn die Sichtbarkeit und Häufigkeit physischer Gewaltanwendung sowie die Intensität staatlich ausgeübten Zwanges sind äußerst kritische Variablen für die Legitimität politischer Macht und die Stabilität von Herrschaft. Üblicher Weise wird struktuelle Gewalt ausgeübt oder alles unternommen, um die institutionell vermittelten Gewaltverhältnisse als natürliche Umwelt erscheinen zu lassen." [11]

Ganz gewiß jedoch wird die "natürliche  Umwelt" auch von nicht-staatlichen, privaten Größen beherrscht, die nicht nur gelegentlich, sondern häufig umfassend, politisch mächtiger auftreten als der Staat es vermag. Eine globale Finanz-und Wirtschaftsmacht agiert über-staatlich und ist bei der Sicherung ihrer Herrschaftsansprüche oft ohne Rechtsbindung.

Über parteipolitische Einflußnahme findet ihr Interessenkonvolut Einzug und Niederschlag in die aktuelle Gesetzgebung. [12] Es entsteht eine mächtige nicht-staatliche Clique mit wechselnden Akteuren - weder Leviathan noch Behemoth - und es ist ganz und gar nicht klar, welche Interessen unter welchen Prämissen der formal demokratisch legitimierte Staat noch befördert und schützt, die der Bürger oder die der ökonomischen Machtgruppen, zu wessen Nutzen oder Schaden dieses oder jenes Gesetzt den einen einschränkt oder den anderen aber gesetzlichen Freiraum verschafft?

So beinhaltet die oft feierlich beschworene "freiheitlich demokratische Grundordnung" die Frage nach ihrer Freiheit wovon und ihrer Freiheit wofür und für wen? Leben und vorleben können diese FDGO in ihrem unveräußerlichen grundgesetzlichen Kern nur kritische, unerschrockene und selbstbewußte Bürger in Wachsamkeit vor jeglichen staatlichen und nicht-staatlichen Einschränkungen und Mißbrauchszwecken.

Das Amt des Bundespräsidenten wäre wohl jene Institution die quasi stellvertretend und symbolhaft für alle diese Widerständigkeit repräsentieren könnte. Aber ist die Person des derzeitigen Amtsinhabers dafür noch glaubwürdig?

rds   11.02.2012


ANMERKUNGEN:

[1] "Wir wollen Marktführer bei der inneren Sicherheit sein und dazu gehört auch, dass wir moderne Möglichkeiten nutzen, um die Täter dingfest zu machen." Uwe Schünemann (CDU), Innenminister von Niedersachsen, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 21./22.01.2012

[2] Tobias Singelnstein/ Peer Stolle, Die Sicherheitsgesellschaft, Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2012, 3., vollständig überarbeitete Auflage, S. 111

[3] Günter Frankenberg, Staatstechnik, Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, S. 54

[4] Die erste war die Weimarer Republik 1919-1933. Die zweite eine je halbe, ein völlig ungleiches, sich beiderseits jedoch Republik nennendes, Zwillingspaar: Bonn und Ost-Berlin 1949-1990. Und nun die dritte(?), die 'Wiedervereinigte', die mit dem beigetretenen kleinen Bruder, die Berliner Republik(?) 1990 bis ?

[5] Peter-Alexis Albrecht, Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft, Auf der Suche nach staatskritischen Absolutheitsregeln, Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2010

[6] Ein amerikanischer Politikwissenschaftler polnischer Abstammung, 1928 in Warschau geboren. Er war Ende der siebziger bis Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, während der Präsidentschaft von Jimmy Carter, einer der einflußreichsten Sicherheitsberater gewesen.

[7] "Je bedrohlicher soziale Phänomene wie 'Organisierte Kriminalität', 'Ausländerkriminalität' und 'Terrorismus' -medial vermittelt- hergestellt werden, desto wirkungsvoller kann die Politik das unerreichbare Ziel totaler Sicherheit in Zeiten totaler Verunsicherung semantisch ansteuern und als Wählbarkeitsmedium politisch nutzbar machen." Albrecht, S. 144

[8] Singelnstein/ Stolle, S. 167

[9] zitiert in: Frankenberg, S. 192/193, Anmerk. 25

[10] Singelnstein/ Stolle, S. 162

[11] Frankenberg, S. 206

[12] "Nicht 'die' Wirtschaft steht 'der' Gesellschaft oder 'dem' Staat gegenüber, sondern unheilige Allianzen bilden sich je nach partikularer Interessenlage." (...) "Der Größte aber kauft Medien, wissenschaftlichen Sachverstand, am Ende Parlamentarier und Einfluss auf eine starke Bundestagsfraktion." Albrecht, S. 275


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Berlin-Kreuzberg, Bergmannstr. / Foto:2009rdsTelefonansage in einer Arztpraxis: Sind Sie Privatzahler, drücken Sie bitte die EINS - sind Sie Kassenmitglied, drücken Sie bitte die ZWEI!

"Der Schlüssel für ein gesundes Leben liegt darin, nicht ins Krankenhaus zu kommen."                                                                         Dan Ariely


In dem Menschen aufgefordert werden, ihren Körper im Rahmen von Vorsorgeprogrammen unter dem Deckmantel von gesundheitlicher Fürsorge kontrollieren zu lassen, werden sie nicht nur zu Akteuren ihrer Selbstverantwortung und Selbstsorge, gleichfalls auch zu Überwachern und Befürwortern fragwürdiger gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen. Die Dicken und die Raucher, die gepiercten und tätowierten, oder die einem totalitären Bodymaß-Index widerstehenden Körper, werden und bleiben unter Beobachtung gestellt. Im Gesamtbetriebssystem der Gesellschaft müssen Abweichungen von der Norm zu Gunsten eines möglichst reibungslosen und störungsfreien Ablaufs indentifiziert und wieder angepaßt, das heißt: reintegriert werden. Das ist nicht nur im Teilsystem von Gesundheit und Krankheit so, auch im System von Arbeitsplatzbesitzern und "Freigestellten".

Ein Beispiel für die (gewollte) freie kapitalistische Marktwirtschaft: Der Preis für Streusalz ist aufgrund der Wetter- und Witterungsbedingungen enorm in die Höhe geschnellt. Die mit einzelnen Kommunen langfristig und vorab geschlossenen Lieferverträge sind von gewissen Firmen gebrochen worden. Man kann zur Zeit einen viel höheren Preis als vorher vereinbart erzielen und liefert nun an Kommunen, die diesen viel höheren Preis noch zahlen können und zahlen müssen. Die Konventionalstrafen wegen der gebrochenen Verträge fallen gegenüber der erzielten Gewinnspanne dann nicht ins Gewicht. Wie heißt es doch so schön: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Aber man muß ergänzen: Und wer zu früh kommt, steht vor verschlossenen Türen!

Wieder einmal hat das Bundesverfassungsgericht entschieden und die herrschende politische Klasse bloßgestellt, und ihr eklatantes Defizit an Sorgfalt und Verläßlichkeit bewiesen. Die Berechnungen zu Hartz IV entbehren in Teilbereichen (Stichwort: Kinderbedarf) jeder realistischen Grundlage. Dass diese -oder beliebige Regierungsmannschaften davor- schludern und ihre "Entscheider" noch jemals im Steinbruch praktischer Lebenswirklichkeit gestanden haben, kann kaum noch verwundern. Korrekturen durch das BVerfG haben schon Dauercharakter. Es wird aber duch das nebenher satt servierte Info-Fast-Food, so unverdaulich und nährwertarm es gerade ist, wieder schnell vergessen. Frage: Soll das etwa so sein? Im Prinzip, ja! Aber ..., würde Radio Eriwan antworten.

Das Produktionshype zu Gunsten des Impfstoffs gegen die Schweinegrippe, hat eine Verknappung des Serums gegen gesundheitsgefährdende und bedrohliche Kinderkrankheiten zur Folge. Keine Panik, keine Sorge; es wird abgewiegelt und heruntergespielt. Die wichtigen Stoffe stehen auch in anderen Kombinationen, von anderen Herstellern zur Verfügung. Zwar nicht in einer Sechsfachkombination für eine Impfung, sondern zu Fünf und Eins, für zwei Impfungen, usw. in den Kombinationsmöglichkeiten. Den Eltern von Neugeborenen und Säuglingen freut es sicher nicht. Verunsicherung -und eine große Irritation dazu- bleibt.

Die FDP läßt selbstbewußt (oder eher blindwütig?) die Muskeln spielen, daß man staunend fragen muß, welche Mucki-Bude ihr gratis zu den Muskeln, samt der Chuzpe dabei, verholfen hat? Das Selbstbewußtsein rührt wohl daher, auf dem Edel-Pissoir der Reichen, Superreichen und Ultrareichen, der Chief Executive Officers und high-net-worth-individuals "Kloputze" und Toilettenwart, dem schon sein Scherflein zufällt, in einer Peron sein zu dürfen; allseits bereit, anbiedernd, liebedienerisch und katzbuckelnd. Seit sich die FDP vom Modell einer sozialgebundenen Marktwirtschaft, dem Ordoliberalismus, schon lange distanziert und zurückgezogen hat, und die einstmalige und erneut ins Amt gelangte Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger angesichts der Dekonstruktion der bürgerlichen Freiheitsrechte gegenwärtig weitgehend nur Händchen hält, erweist sich die Partei als die treibende, negative Kraft innerhalb der Liquidatoren-Koalition von CDU/CSU und FDP. Und sie demaskiert sich dabei vollständig. Sichtbar wird die feiste Fratze ihrer puren Klientelpolitik.

"Reichtum ist die Watte, in welcher die herrschende Klasse der Moderne gepackt ist, und er ist der Kraftstoff, der ihre Herrschaft antreibt." [1]

Als die Stimme ihres Herrn, Sprechblasenhalter und Fürsprecher der institutionellen Macht des Reichtums, kann die Partei auch nur gegen den Ankauf der auf einer CD gebrannten, denunzierenden und unbestreitbar mit krimineller Energie beschafften Daten über deutsche Steuersünder agitieren. Während die Einen nicht aus dem Teufelskreis der Mittellosigkeit herauskommen und dafür noch weitgehend selbst verantwortlich gemacht werden, gilt das Hinterziehen von Steuern noch als Kavaliersdelikt, und als ein mit Ehrgeiz betriebener sportlicher Wettbewerb: Je höher die hinterzogene Summe, desto größer das Ansehen in den eigenen Kreisen. "Kauft sie Leute, kauft sie ein...! Souvenirs, Souvenirs! Einer großen Zeit... Sie lassen alle mal was liegen, die Großen dieser Welt, und das sind die Souvernirs, die man überall erhält!" So trällerte 1959 einst Bill Ramsey in einem populären Schlager. Man möchte mitsummen.

Memory of Scottish American Soldiers, Edinburgh - Foto:rds2006In einer Dekade des transnationalen Bescheißens, Schmieren und Beschönigen, und des Verramschen dieser deutschen Nachkriegsdemokratie, deren gesellschaftliche Kernnormen Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness (Wilhelm Heitmeyer) schwer angeschlagen sind und vor sich hinkränkeln, sollte man wenigstens an die Freiheit, an die Neutralität und an die "Wahrheit" in den Wissenschaften glauben. Aber auch dort ist es mit der "Wahrheit" nicht weit her, können sich die Wissenschaften doch einer Marketingberechnung nicht verweigern und entziehen, noch sind sie gegen andere Einflüsse gefeit. Schon 1954 bekannte Albert Einstein angesichts des wachsenden Einflusses des Militärs in den Wissenschaften in den Vereinigten Staaten öffentlich: "Wenn ich noch einmal ein junger Mann wäre und wieder vor der Entscheidung stände, wie ich mein Geld zum Leben verdienen sollte, dann würde ich nicht studieren, um später Wissenschaftler, Gelehrter oder Lehrer zu sein. Ich würde stattdessen lieber Klempner oder Hausierer werden, in der Hoffnung, mir dabei den bescheidenen Grad von Unabhängigkeit zu erhalten, der  unter den gegenwärtigen Bedingungen noch möglich ist." [2] Die Abhängigkeiten von Wissenschaftlern und die Mißbrauchsmöglichkeiten durch die Wissenschaften sind im Vergleich zu damals sicher nicht geringer geworden.

Regensburger Dom; Foto: 2008rdsMißbrauch betrieb die Priesterschaft der katholischen Kirche -und vermutlich nicht nur diese- in einem empörenden Ausmaß und in einer der perfidesten Weise; gemeint ist der sexuelle Mißbrauch. Zu den unsäglichen Mißbrauchsvorfällen und Übergriffen vielfältiger Art, denen die ihnen anvertrauten und darin arglosen Mündel in den "christlichen" Erziehungsheimen in den Fünfziger- und Sechziger Jahren -und darüber hinaus-ausgesetzt waren, gesellen sich nun tröpfchenweise immer weitere und neue schwerwiegend Tatbestände. Was war das für eine Republik in der Adenauer-Ära, was ist das für ein erstickendes Land, in dem das alles so lange unter dem Mantel des Schweigens verborgen gehalten, übergangen, beschwichtigt und beschönigt werden konnte? Schuldbewußtsein und verspätete Reue befrieden den Reumütigen, nicht das beschämte Opfer.

Deutscher Medienpreis für die Kanzlerin! [3] Auch Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Hillary Clinton und seine unübergehbare und unübersehbare Heiligkeit, der Dalai Lama, der sich immer wieder gegen eine Kultur des Materialismus ausspricht [4], haben ihn schon erhalten. Nun die "nicht aufzuhaltende Frau", Angela Merkel. Wer oder was wurde da geehrt? Der Preis oder die illustre, noble Schar der Preisträger, in die Frau Merkel sich nun einreiht? Die Prominenz eines Namens garantiert bereits die Bedeutung eines Ereignisses oder "Events", oder sie hebt die Bedeutung eines noch so wichtigen oder unwichtigen Preises in die Höhe, ja hebt ihn aus der Flut an Preisen überhaupt erst heraus. Daher tauchen regelmäßig allerorts und zu allen entsprechenden Anlässen immer dieselben Namen im Register, in der Einladungliste oder auf der Liste der Preigekrönten auf. Preise, die ein Herr Hinz oder eine Frau Kunz erhalten, sind garantiert eher belanglos, mögen sie auch vom Bundespräsidenten Horst Köhler, einem Domestiken des globalen Geldmachtapparates (Hans Jürgen Krysmanski), höchst persönlich überreicht worden sein.

"You've never had it so good!" Mit diesen Worten wandte sich 1959 Harold Mcmillan, von 1957 bis 1963 Premierminister, an die britischen Untertanen ihrer Majestät, Königin Elisabeth II., die noch immer an den Kriegsfolgelasten litten, fast anderthalb Jahrzehnte nach Kriegsende. Auch wir hatten es niemals so gut wie heute, und wir haben es immer noch gut; vergleichweise. Aber woran leiden wir dann? An Verlustängsten: Jobverlust, Einkommen- und Vermögensverlust, Sicherheitsverlust, Liebesverlust? An Schlaflosigkeit: Einschlafschwierigkeiten, Durchschlafstörungen? An Depressionen und anderen Störungen der psychischen Befindlichkeit: Borderline-Syndrom, Bourn-out, Trauer, Zweifel und an Zwängen aller Art, Hoffnungslosigkeit? Kontrollverlust im persönlichen Umfeld? Steht dem Kontrollgewinn des Kapitalismus nicht ein Kontrollverlust der nationalen Politik in den Nationalstaaten gegenüber? Zu wessen Gunsten neigt sich die Waage dauerhaft? Während unter Deck die Puppen tanzen, besetzt Deutschland auf dem Superluxuskreuzer EUROPA dauerhaft die Zahlmeisterei. Gerät das Schiff in schwere See, sind seine Qualitäten als Kapitän, Lotse und Zahlmeister zugleich gefragt, während der Rest der Mannschaft überfressen über die Reeling hängt.

Allen bleibt nur wenig Zeit, sich aus dem Kettenhemd von Ängsten und Unsicherheit zu befreien und dem anbrechenden Zeitalter des Fatalismus einerseits und des Fanatismus andererseits zu begegnen. Cocooning -das Einspinnen in die nur eigenen Befindlichkeiten und der Rückzug in die anheimelnde Privatheit- ist keine Lösung.

rds 11.02.2010


ANMERKUNGEN:

[1] Hans Jürgen Krysmanski, Hirten & Wölfe, Wie die Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen, Westfälisches Dampfboot, Münster 2009, S. 136

[2] Albert Einstein in einem Leserbrief an: The Reporter, 18. November 1954, S. 8; zitiert in: C. Wright Mills, Die amerikanische Elite, Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten, Holsten-Verlag, Hamburg 1962, S. 243

[3] Die Media Control GmbH, 1976 eine Gründung des damals dreißigjährigen Medien- und Touristikunternehmers Karlheiz Kögel, ist der Ausrichter des Deutschen Medienpreises. Nach dem Zusammenschluß mit der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), firmiert sie inzwischen als Media Control GfK.

[4] Dalai Lama, Das Buch der Menschlichkeit, Eine neue Ethik für unsere Zeit, Bastei Lübbe Taschenbuch, 2002

* Kein schöner Land in dieser Zeit: Titelzeile eines sehr bekannten, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts enstandenen Volksliedes.


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V O L K S T R A U E R T A G


"Wißt ihr, das war mal ein ganz herrliches Land." [1]


Der Deutsche Bundestag hat am 9. November das Friedhofsfeld für die Freiheits- und Grundrechte aller Bürger in diesem Land markiert und die Gräber ausgehoben. Viele "Volksvertreter" sind ihrer hohen Verantwortung für eine offene und freiheitliche Gesellschaft nicht gerecht geworden oder haben sich ihr verweigert, sondern befördern mit ihrem Abstimmungsverhalten mehr noch ein sich fröhlich ausbreitendes Arschkneifertum. Mit "seinen grundrechtssprengenden Denkanschlägen" hat sich Wolfgang Schäuble anscheinend durchgesetzt und wird nun zukünftig zusammen mit seinem Vorgänger im Amt, Otto Schily, stelvertretend für Hunderte kurzsichtiger Abgeordneter als "fanatischer Triebtäter in Sachen Sicherheit&Terror", als personalisierter Ordnungs- und Sicherheitsgeist über die Republik schweben. Begegnungen der heimlichen Art werden zukünftig auf allen Ebenen unzulässig sein und ausgeschlossen bleiben.

BE SEEING YOU, MR. SCHÄUBLE!

rds


ANMERKUNG: [1] Szenen-Dialog aus dem US-Spielfilm EASY RIDER von 1969


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2007rdsZwischen den einzelnen Jahreszahlen besteht eine begrenzte Kontinuität oder auch nur ein konstruierbarer Zusammenhang. Es soll auch keine Gleichwertigkeit in der historischen Geltung postuliert werden, was ein absurdes Unterfangen wäre. Einige Novembertage, speziell der achte und der neunte Tage des Monats, haben sich dennoch im zurückliegenden Jahrhundert für Deutschland in seiner jeweiligen staatlichen Verfaßtheit und für die Menschen als ein einflußreiches und schicksalträchtiges Datum erwiesen.

Erinnert sei nur kurz an das Jahr 1918 mit der "November-Revolution". Am 9. November gegen 2 Uhr nachmittags rief der 1865 in Kassel geborene und gelernte Buchdrucker Philipp Scheidemann, einer der drei Fraktionsvorsitzenden der SPD im Reichstag, von einer Fensterbrüstung des Reichstag die "Deutsche Republik" aus. Fünf Jahre später, 1923, nutzte Adolf Hitler die Gelegenheit, um am Abend des 8. November während einer Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller die "Nationale Revolution" auszurufen. Der sogenannte "Hitler-Putsch" endete bereits am Mittag des 9. November unter den Kugeln der bayerischen Landespolizei an der Münchner Feldherrenhalle. Hitler konnte zunächst fliehen. Eben jener Ort, der Münchner Bürgerbräukeller, war auch der Schauplatz des vergeblichen Versuchs des württembergischen Schreiners Johann Georg Elser gewesen, den "Führer" Adolf Hitler mit einer selbstgebastelten Bombe am 8. November 1939 zu töten. Bereits ein Jahr zuvor, 1938, brannten in ganz Deutschland am 9. November die Synagogen. Es waren die Pogrome der "Reichskristallnacht". Nahezu 7500 jüdische Geschäfte wurden verwüstet. Viele Juden wurden getötet, begingen Selbstmord oder starben an den Folgen der Mißhandlungen in den Konzentrationslagern. [1]

Was wäre geschehen und wie hätten sich die Verhältnisse im "Deutschen Reich" entwickelt, wenn Georg Elsers Bombenattentat nicht mißglückt und Hitler getötet worden wäre? Er wäre nicht zum "Opfer" geworden, ein Terror-Opfer oder dem Anschlag "zum Opfer gefallen", da der Status des Opfers zumindest mit einem Quäntchen von Unschuldsvermutung durchsetzt und einem mehr oder weniger stark ausgeprägten, hier gänzlich unangebrachten, Mitleidsgefühl behaftet ist. Hitler hatte frühzeitig seine eigentlichen Ziele und Ansichten unmißverständlich verbreitet und klar 1924 und 1928 in den zwei Bänden von "Mein Kampf" Ausdruck verliehen: "Im ewigen Kampfe ist die Menschheit groß geworden - im ewigen Frieden geht sie zugrunde." (...) "Wer leben will, der kämpfe also und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht." (...) "Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein." [2]

Ein geteiltes Land ist Deutschland geworden. Der Prozeß einer mehr als vierzigjährigen Entfremdung hat einen tiefen und folgenschweren Riß verursacht. An jenen besagten Tagen im November 1989 fiel die Mauer und ein wesentlicher Teil der Deutschen konnte nach jahrzehntelanger Diktatur und Willkürherrschaft auch endlich wieder in Freiheit und in demokratischen Verhältnissen leben. Nach dem wilhelminischen Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem "Dritten Reich" und nach der Überwindung der in gegensätzlichen und verfeindeten Blöcken und Militärbündnissen eingebundenen zwei deutschen Staaten mit beschränkter Souveränität, nun im lebenslangen Arkadien im Zentrum eines freiheitlichen Europas angekommen? Im demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland. Die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit, die Freiheit seiner Bürger und den Frieden zu bewahren und zu schützen sind die Aufgaben seiner Institutionen. Niemals wieder dürfen sie von einem imaginären Zeitpunkt aus in der Zukunft rückbetrachtet zu einer "Fußnote" in der Geschichte degradiert werden.

"Die Bedrohung der Freiheit kommt niemals durch die selbe Tür. Sie kommt immer anders." [3]

Erfreulicherweise wächst hier inzwischen eine Generation heran, die über totälitäre Strukturen, über den totalitären Staat ausschließlich aus den Geschichtsbüchern weiß, von Lehrern informiert ist oder von den eigenen Eltern und Großeltern noch persönliche, eigene Erfahrungen hört. Sie kennt nichts außer Freiheit! Und doch sind auch demokratische Staaten nicht immun und gänzlich frei von Entwicklungen, die in Unfreiheit, Gängelungen, repressiver Kontrolle und Unterdrückung enden können. Eine im demokratischen Verfahren im frei gewählten Parlament zustande gekommene Mehrheitsentscheidung kann dennoch in ihren Auswirkungen einen gegenteiligen, kontraproduktiven Effekt auslösen. Die Freiheit der Bürger, die doch geschützt werden soll, wird in ihren Grundlagen dadurch eingeschränkt oder ihrer ganz beraubt.

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages entscheiden am 9. November über die Vorratsdatenspeicherung. Hier soll keine inhaltliche Parallele zu vergangenen, bedeutungsschweren Ereignissen in der wechselhaften Geschichte der Deutschen gezogen werden, wie sie vorab knapp ausgeführt worden sind. Lediglich die Übereinstimmung der besonderen Novembertage und der darin spontan aufscheinende Erinnerungseffekt soll bezeichnet werden. Mehr ist nicht zulässig und gewollt. 

Freiheit bedeutet unter anderem auch die Wirksamkeit des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und das eine sichere und vertrauensvolle Kommunikation der Bürger untereinander mit Hilfe aller modernen Kommunikationsmittel gewährleistet ist. Die drohende massenhafte Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten eines jeden, die in einem Interesse für den Ausnahmefall begündet liegt, darf nicht zum Normalfall werden: "Vor allem muss verhindert werden, dass in der Gesellschaft Strukturen verfestigt werden, die für immer überwachungsstaatliche Entwicklungen ermöglichen oder nahe legen." [4] Es ist höchste Zeit, diejenigen wachzurütteln, die beharrlich in einer unbegreiflichen und nachlässigen Unbekümmertheit glauben, es handelt sich bei diesem Thema um das Randproblem einiger besonders skeptischer, kritischer oder gar staatsfeindlicher Zeitgenossen, das man nicht sonderlich ernst zu nehmen braucht. Der Verlust der Freiheit ereignet sich nicht quasi über Nacht, sondern er tritt schleichend ein, in gewöhnungsgerechten Portionshäppchen. Zunächst mit kleinen Einschränkungen und nur scheinbar hinnehmbaren Unannehmlichkeiten, bis immer mehr massiver in die Freizügigkeit und in die eigenständige Handlungsfähigkeit jedes einzelnen eingegriffen wird und der Wendepunkt hin zur Unumkehrbarkeit überschritten worden ist. Es sei an eine Aussage von Konrad Weiß erinnert: "Die Sicherheit des Staates ist kein höheres Gut als die Freiheit seiner Bürger." [5] Die Vorratsdatenspeicherung ist ein ungenießbarer Happen, durch den der Erstickungstod akut droht.

Ort wechselvoller deutscher Geschichte und Entscheidungen, der Reichstag in Berlin. Foto: 2004rdsAn die Abgeordneten aller Parteien, die am 9. November zu entscheiden haben, soll daher an dieser Stelle die eindringliche Aufforderung gerichtet werden, durch ihr Votum die Gefährdung der bürgerlichen Freiheiten nicht zu akzeptieren und die massiven Proteste und die bekundeten Ängste und Besorgnisse der 15000 im September in Berlin und aller engagierter und betroffener Bürger landesweit anzunehmen, im Sinne einer lebenswerten, weil freiheitlichen und offenen Gesellschaft zu wirken und nicht "vorrangig den seltenen Überwachungsinteressen" des Staates den Vorzug zu geben, sondern dem Grundrechtsschutz des Bürgers. "Was den freiheitlichen Rechtsstaat von autoritären und halbautoritären Systemen unterscheidet, ist nicht die generelle Berufung auf das Ziel der Freiheit, sondern die strenge Bindung an hier und jetzt geltende Freiheitsrechte. Freiheit ist im Rechtsstaat nicht die irgendwann einmal fällige Dividende erfolgreicher Sicherheitspolitik, sondern der unmittelbar geltende Maßstab staatlicher Legitimität, dessen Beachtung außerdem einer wirksamen Kontrolle unterworfen ist." [6]

rds


ANMERKUNGEN:

[1] Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Deutsche Geschichte 1806-1933, Bonn 2002

Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen II, Deutsche Geschichte 1933-1990, Bonn 2005

[2] Das zweiteilige Buch blieb der wohl seinerzeit am wenigsten gelesene "Bestseller" in deutscher Sprache, Gesamtauflage über 10.Millionen.

[3] Zitat: Michael Stürmer in einem Interview im Deutschlandradio Kultur am 09.05.2006

[4] Prof. Dr. Alexander Roßnagel, Datenschutz in einem informatisierten Alltag, Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2007, S.190

[5] in: Politik Forum, Nr. 9, vom 11.05.2007

[6] Heiner Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat, Essay, Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin 2004, S.6


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...zurückfahren, HERR SCHÄUBLE!


Eindrucksvolle Demonstration in Berlin unter dem Motto: Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn!


Viele vor Ort artikulierten und drückten ihren Protest verbal oder in einer eindeutigen Maskerade auf die eigene Weise aus: Vom umtriebigen Gesinnungsschnüffler bis zur ClownsPartei als "kriminelle Vereinigung". Der Preis der Freiheit ist die ewige Wachsamkeit - Nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein - Lieber Tanzen, Titten, Sonnenschein als ein Datensatz von Schäuble sein - Speicher voll und Hirn ganz leer, für Schäuble ist das gar nicht schwer.

Das ist nur eine kleine Auswahl aus den massenhaften Unmutsbekundungen und plakatierten Protesten der auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor versammelten Demonstranten und des von dort ausgehenden Protestzuges gegen den Überwachungsstaat.

Foto: 2007rdsDer TAGESSPIEGEL zitiert auf der Lokalseite seiner einen Tag später erscheinenden Sonntagsausgabe einen Polizeisprecher mit der Zahlenangabe von 2000 versammelten Personen auf dem Pariser Platz und vermeldet in einem Atemzug die mit "über" 2000 Personen orts-und zeitgleich erfolgreich verlaufende Fahrradkundgebung des ADFC. Wo waren die alle? Die vom ADFC. Und die, wie die der neben anderen linken Gruppierungen erwähnte ANTIFA, unauffällig präsenten Vertreter der GRÜNEN, der LINKSPARTEI und der FDP hervorgehobene Erwähnung fanden, jedoch nur mehr Trittbrettfahrer waren, fanden die eigentlichen Initiatoren der Veranstaltung und das breite Aktionsbündnis, das die Demonstration unterstützend vorbereitet und zur Teilnahme mit aufgerufen hatte, mit keinem Sterbenswörtchen eine Erwähnung. Ebenso wenig die zahlreichen Redner, wie zum Beispiel Dr. Thilo Weichert vom ULD ( Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein).

Foto: 2007rdsEin Flagschiff des Springer Verlages in Berlin, die BZ am Sonntag, berichtet in einer kleinen, bebilderten Randnotiz (Foto: prügelnde Polizei mit chaotischen Demonstranten - oder umgekehrt?) von über 8000 Teilnehmern. Der Veranstalter selbst nennt auf der Zwischenkundgebung am Alexanderplatz, zwischen den übermenschlich dimensionierten Figuren von Marx und Engels und dem Brunnen der allegorischen Darstellungen deutscher Flüsse, die stolze Anzahl von 15000 Teilnehmern.

"Bundestrojaner"  Foto: 2007rdsWelche Zahl nun der Wirklichkeit an diesem 22. September 2007 in Berlin am nächsten kommt, mag nur in zweiter Linie wichtig sein, denn der öffentlich gemachte Protest hat jetzt im vierten Anlauf ganz klar an Zulauf, Unterstützung und an dynamischer Kraft gewonnen. Die Kaffee trinkenden Bohemiens vor dem Berliner Hotel Adlon hat er sicher nicht erreicht und in ihrer 'granitenen Weltanschauung' irritiert oder nur einen Hauch verunsichert. Eher fürchtete man dort wohl unbegründet um die Unversehrtheit des hoteleigenen Prunk&Protz-BMWs angesichts der anschwellenden Menschenmassen auf dem Pariser Platz und fuhr den Wagen lieber in die Garage.

Foto: 2007rdsObwohl von der gesamten mehrstündigen Demonstration und dem Protestzug durch die Innenstadt keine gewalttätigen Aktionen ausgingen, kam es auf dem Rückweg zu der geplanten Abschlußveranstaltung vor dem Brandenburger Tor in Höhe der Humboldt-Universität zu wiederholten Polizeieinsätzen, die letztlich dazu führten, daß die Demonstration von den Verantwortlichen vorzeitig für beendet erklärt werden mußte. Dennoch versammelte sich weit hinter dem Zeitplan des Veranstalters liegend gegen 19 Uhr eine umfangreiche Anzahl ausharrender, und teilweise extra mit Bussen aus allen Teilen des Bundesgebietes organisiert angereister Kritiker des Überwachungsstaates, um den Rednern der Abschlußkundgebung, wie padeluun, Twister (Bettina Winsemann) und Patrick Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, zuzuhören. Patrick Breyer schloß die gesamte Veranstaltung mit einer sehr eindringlichen und scharf pointierten Rede ab. Sein ausnahmsloser Dank richtete sich an alle Teilnehmer der Demonstration und sein Wunsch, bei der nächsten mögen es mindestens genauso viele, wenn nicht gar mehr sein, widerlegte er sich selbst mit seiner Hoffnung der Unnotwendigkeit, weil der Überwachungswahn inzwischen gestoppt oder zumindest eingedämmt werden konnte. Dazu sollte diese erfolgreiche Protestkundgebung beigetragen haben.

Foto: 2007rdsEin berechtigter Wunsch. Aber dennoch, wie er selbst sein eigenes zukünftiges Wahlverhalten verriert - nie wieder SchwarzRot, CDU oder SPD aus nahe liegenden Gründen zu wählen - so wird schwerlich unter dieser derzeitigen Bundesregierung mit einem Innenminister Wolfgang Schäuble und allen seinen Gesinnungsgenossen ein anderer, bürgerfreundlicher und damit betont freiheitlicherer Weg begangen werden.

Der Protest muß weitergehen!

rds


Quelle: AK VorratAb 2008 soll für alle Bürger gespeichert werden, wer wann mit wem wo telefoniert hat, wer wann wem eine Mail geschrieben hat, wer wann wo und wie im Internet war. Ohne Anfangsverdacht, ohne Beschränkung auf schwere Straftaten, mit Zugriff der Geheimdienste und Weitergabe an Drittstaaten. Der Bundestag wird darüber am 8./9. November entscheiden. Wir wehren uns gegen dieses monströse Überwachungsprojekt und die allgemeine Politik der Angst.

Noch ist unsere Freiheit nicht verloren.


Schillerdenkmal, 6. November



Wollen Sie in einem Überwachungsstaat leben? Demo in Hannover am 6. Nov. 2007; Foto: 2007rdsDer bundesweite Aufruf des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung zu dezentralen Protestkundgebungen am 6. November gegen die voraussichtliche Umsetzung des Gesetzes zur Telekommunikationsüberwachung (Speicherung von Kommunikationsdaten für Strafverfolgungszwecke) durch die Mehrheit der Regierungsparteien im Deutschen Bundestag drei Tage später, schien zunächst in Hannover wirkungslos zu verhallen.

Zur Ehrenrettung und um ein Zeichen gegen den Überwachungsstaat und gegen die Beschneidung der Bürgerrechte zu setzen, fanden sich dann doch noch bei naßkalter Witterung fünfzig bis hundert Protestler, rechnet man die interessierten und ansprechbaren, zufälligen Passanten hinzu, vor dem Schillerdenkmal in Hannover ein. Auffallend war die homogene Altersstruktur der anwesenden, um die Dreißigjährigen (+/-). Von der Generation der teilsaturierten "baby boomer" und den ganz jungen, die haarscharf noch nicht mit einem implantierten Chip in die Welt gerutscht, aber alle anscheinend mit dem Handy vernabelt sind, fehlten die Teilnehmer fast völlig.

Die zwischen 19.30 Uhr und 20.30 Uhr ablaufende Versammlung kam unter der maßgeblichen Organisation und Beteiligung der Piraten Partei, Landesverband Niedersachsen, zustande, deren Mitglieder seit einigen Wochen hier unter dem Motto "Hannover erwacht" bislang jeden Dienstag um 19 Uhr eine Mahnwache abhalten. Höhepunkt war eine kurze, aber ganz auf den Punkt gebrachte Ansprache eines ihrer aktiven Mitglieder. Die Piraten Partei möchte bei der bevorstehenden Landtagswahl in Niedersachsen 2008 antreten und wirbt daher auch in eigener Sache. Sie will sich u.a. für die informationelle Selbstbestimmung, für Privatsphäre, für den transparenten Staat und mehr Basisdemokratie und für eine freie Bildung ohne Studiengebühren einsetzen.

Schillerdenkmal, Hannover. Demo in der Anfangsphase,  6. Nov. 2007; Foto: 2007rdsWie schwer es immer noch ist und möglicherweise bleiben wird, den Datenschutz, der ja der Schutz der Persönlichkeit und die Integrität eines jeden vor der unkontrollierbaren und nicht nachvollziehbaren Datensammelwut der Wirtschaft und des Staates bedeutet und gewährleisten soll als Thema unter die Leute zu bringen, wurde auch von einem Vetreter der Piraten Partei bestätigt. Beobachtungen vor Ort an diesem Abend wirkten leider ernüchternd und zutreffend, sollten aber auf keinen Fall Anlaß zur Resignation sein.

rds 

Hinweis: Freitag, 9. November 2007, Deutscher Bundestag, 124. Sitzung, 9.00 Uhr bis ca. 16.10 Uhr (12.55 Uhr - 13.55 Uhr TELEKOMMUNIKATIONSÜBERWACHUNG)

Themenlink: Der Weg zur sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherung ist frei, heise-online, newsticker vom 07.11.2007



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B A U M E I S T E R


Foto: 2004rdsDie "rechte Szene" steht unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Konservative bis links-sozialistisch ausgerichtete Medien fokussieren von ihrem jeweiligen Standpunkt aus die öffentlichen Auftritte der "Szene", besonders jetzt während der Fußball-WM in Deutschland, die schon in der zweiten Woche ihrer Laufzeit die Ansätze zu einem fahnenschwingenden, volkskollektiven Verdrängungsrausch erkennen läßt, dem unabwendbar die Ernüchterung folgen muß, da auf dem Rasen nun leider überhaupt keine Gegenwartsprobleme gelöst, allenfalls mentale Befindlichkeiten aufgepumpt werden. Das in die Welt hinaus vermittelte positive Bild soll und darf auch durch noch so kleine neobraune Sprenkel nicht befleckt und verunstaltet werden.

Und doch sind schon geistige Baumeister am Werke, deren Existenz und hintergründiges Wirken an unverdächtigerer Stelle provokant mit dem Satz zusammengefaßt werden mag: Arbeit macht frei - Nicht-Arbeit vogelfrei! Weit über nur allgemein-populistischen Aktionismus hinausgehend, wird versucht, den staatlichen Repressionsapparat zu verstärken und auszudehen, und auszuloten und auszutesten, was in dieser Republik geht und was (noch) nicht geht.

Markige Worte durchhallen wie aus dem Seidenpapier gewickelt von Bayern her grollend den "Ordnungsstaat". Stefan Müller zum Beispiel, Jahrgang 1975, Bankfachwirt und CSU-Bundestagsabgeordneter für Erlangen und Erlangen-Höchstadt, seit 2002 im Bundestag, sein Vorschlag: "Gemeinschaftsdienst für Langzeitarbeitslose." Er schreibt auf seiner Homepage Mitte Juni 2006: "Über Sieben Millionen Menschen leben in Deutschland von Arbeitslosengeld II. Diese Zahl ist entschieden zu hoch. Unter den Langzeitarbeitslosen gibt es eine große Zahl von Menschen, die arbeiten wollen, aber den Anforderungen des Arbeitsmarktes aus verschiedensten Gründen nicht oder nicht mehr genügen. Unsere Gesellschaft darf diese Menschen und ihre Begabungen und Fähigkeiten aber nicht fallen lassen! Genauso wenig kann die Solidargemeinschaft akzeptieren, dass es auch Menschen gibt, die staatliche Leistungen bewusst zu Unrecht beziehen oder schwarzarbeiten. Eine Möglichkeit, beide Probleme anzupacken, ist die Einführung eines Gemeinschaftsdienstes für Langzeitarbeitslose. Dabei müssen sich Betroffene täglich bei einer Behörde vor Ort melden, wo ihnen eine gemeinnützige Arbeit zugewiesen wird, die ihnen im Idealfall eine Beschäftigung acht Stunden pro Tag, von Montag bis Freitag ermöglicht. Wer sich verweigert und nicht erscheint, muss mit empfindlichen finanziellen Einbußen rechnen. (...) Diejenigen, die Leistungen der Solidargemeinschaft missbräuchlich beziehen, stehen so unter einem erhöhten Rechtfertigungsdruck gegenüber der Gemeinschaft. Wer sich jeden Morgen zu gemeinnütziger Arbeit melden muss, wird sích wohl überlegen, ob er ohne Not Hartz IV beantragt."

Das einstmals beabsichtigte "Fördern und Fordern" hat sich jedoch längst fließend in ein "Fordern, Überwachen und Strafen" verwandelt und stabilisiert. Zygmunt Baumann schreibt: "Institutionen des >Wohlfahrtsstaates<. werden nach und nach abgebaut und ihrer Funktion beraubt; gleichzeitig werden Einschränkungen aufgehoben, die der Geschäftstätigkeit und dem freien Spiel der Wettbewerbskräfte des Marktes früher auferlegt wurden. Die Schutzfunktionen des Staates werden auf eine kleine Minderheit von nicht Beschäftigungsfähigen und Invaliden zurückgefahren. Doch selbst diese Minderheit wird allmählich umdefiniert und aus dem Bereich Sozialfürsorge in den Bereich Gesetz und Ordnung verschoben: Die Unfähigkeit, sich am Spiel des Marktes zu beteiligen, wird zunehmen kriminalisiert." [1]


Ein lächelnder, stiller Totengräber der Vollbeschäftigung geht um auch in Deutschland und bedeutet Millionen noch ungläubigen und fassungslosen Menschen die Überflüssigkeit ihrer Existenz, blind für deren Alter, Ausbildung, Ethnie oder Geschlecht. Und das anwachsende Unvermögen und womöglich der Unwille, die physische und psychische Existenz in bisherigem Maße durch staatliche Hilfsmaßnahmen zu prolongieren gehen einträchtig nebenher. Großkonzerne und deren ausnahmslos männlich vorständige Eliten verkünden im Monats- oder nur noch im Wochentakt den Abbau von Arbeitsplätzen in zigtausendfacher Anzahl. Die Politik ist innerhalb der alle Lebensbereiche usurpierenden Ökonomie im Status eines hilflos reagierenden Semiakteurs gefangen und vermag sich nur noch in wenigen Bereichen, wie Militär, Sicherheit und Ordnung zu profilieren.

Wahlen sind weder wirkliches Event, noch stellen sie ernstzunehmende Alternativen bereit. Wir wählen nur noch, von wen wir wie lange beschwichtigt, still gestellt, an der Nase herumgeführt oder zum Narren gehalten werden. Die wesentlichen Entscheidungen fällen keine nationalen Regierungen mehr. Und die EU bislang nur bedingt. "Die wirtschaftliche Situation der Bürger eines Nationalstaates steht nicht mehr unter der Kontrolle staatlicher Gesetze. (...) Wir haben jetzt eine globale Herrscherschicht, die alle bedeutenden wirtschaftlichen Entscheidungen trifft, und zwar völlig unabhängig von nationaler Gesetzgebung und a fortiori vom Willen der Wählerschaft jedes beliebigen Landes." (Richard Rorty, 1996) Aber das bedeutet weder Entlastung, noch ein Freibrief für eine sich immer mehr selbst genügende politische Klasse.

Nicht mehr als das Betreiben und die Pflege von politischer Bestandssicherung oder auch nur Effekt- und Aufmerksamkeitshascherei im hauptstädtischen Alltagsgeschäft mögen Stefan Müller zum seinem "Gemeinschaftsdienst"-Vorschlag angeleitet haben. Sicher ist er nicht der Einzige in seiner Partei, im Parteienspektrum überhaupt, der eine ganz allgemeine Drift zum "autoritäre(n) Präventions- und Sicherheitsstaat" noch verstärken möchte. Abschließend mag daher an einen Satz des Verfassungsrichters Udo di Fabio erinnert werden: "Eine Gesellschaft bleibt nur frei, wenn sie Herrschaft nicht anbetet, sondern nur nach deren Nützlichkeit und "Beherrschbarkeit" fragt." [2]


Anmerkungen: [1] Zygmunt Bauman, VERWORFENES LEBEN, Die Ausgegrenzten der Moderne, Bonn 2005

[2] Udo di Fabio, DIE KULTUR DER FREIHEIT, München 2005

rds

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RADIESCHENVEREIN


Erich Mühsam und Kurt Tucholsky pflegten zu ihren Lebzeiten vor zeithistorischem Hintergrund ein recht distanziertes Verhältnis zur SPD. Ersterer widmete der deutschen Sozialdemokratie sein zynisch-ironisches Gedicht vom "Revoluzzer", der im Zivilstand ein Lampenputzer war, und nicht minder scharf war die SPD die bevorzugte Zielscheibe des Spotts und der Verachtung von Kurt Tucholsky gewesen. Er nannte die Sozialdemokratie in einem Gedicht "Skatbrüder ..., die den Marx gelesen" und setzte später noch eins drauf, in dem er die Partei mit "bescheidenen Radieschen: außen rot und innen weiß" verglich.

In der Rundfunksendereihe des RIAS Berlin "Wo uns der Schuh drückt", nahm Willy Brandt als damaliger Regierender Bürgermeister von Berlin (West) Bezug auf die großen und kleinen Probleme der Bürger in der mauergeteilten Stadt zur Zeit des Kalten Krieges. Er kommentierte, moderierte und bewertete und formulierte im Hinblick auf das Ganze seine Politik für die Stadt der "Insulaner", die nicht nur vom "Verlust der Ruhe" ständig bedroht waren.

Heute ist zu fragen: Wo drückt der SPD der Schuh? Welche Erwartungen und Ansprüche an Politikgestaltung, ob in Regierungsverantwortung eingebunden oder als (Mist-)Opposition gebraucht, sind im Hinblick auf ihre personellen und inhaltlichen Miseren überhaupt noch realistisch und angemessen? Heute befindet sich die linke Volkspartei (?) allenfalls auf der Suche nach der Kraft der Erneuerung. Stichwort: Glaubwürdigkeit. Die Quadratur des Kreises hat die Partei mit ihrer unüberbietbaren Dialektik während des vergangenen Wahlkampfes und danach vollzogen, in dem sie zunächst auf den Gegner mit der hocheffizienten und wirksam durchschlagenden Zaunlatten-Argumentation der "Merkelsteuer" -die bekanntlich zwei Prozent betragen sollte- eindrosch, dann aber einer zum 1. Januar 2007 wirksam werdenden, dreiprozentigen Mehrwertsteuererhöhung als schwergewichtiger Regierungs-"Junior"-Partner abzusegnen half. Das ist schon gar nicht mehr dialektisch, das ist betrügerisch! Denn im Wahlkampf hat die Partei die Politik rhetorisch bekämpft, die sie als Agenda 2010 mitverantwortlich angefacht hat, und sie hat sich dabei als Widerstandskampftruppe des "kleinen Mannes" gegen unsoziale Stuererhöhungen empfohlen und gegen die CDU/CSU in Stellung gebracht. Eben diese Mehrwertsteuererhöhung, flankiert durch die schillernde Seifenblase "Reichensteuer", die soziale Ausgewogenheit suggerieren soll, geht voll zu Lasten der Klientel, deren Interessen zu verteidigen die SPD vorgibt.

Im Gegensatz zu einem Software-Programm kennt ein Parteiprogramm, ein formuliertes und durch seine Protagonisten ausgeführtes Wahlprogramm, ganz so wie das richtige Leben und die Geschichte, keinen Wiederherstellungspunkt. Das artikulierte, aber uneingelöste Versprechen, der Verrat bleiben nach jedem Neustart wirksam, obgleich nur so lange, bis das immer noch verläßlich einsetzende Vergessen wie ein Virus das Wahlvolk befällt und überwiegend alle in ihr wohleingerichtetes, von Störungen wieder befreites Muckertum abgeregt zurückkehren und bis zur nächsten Großkampagne verharren läßt.

Der Wahlkampfmatador und Hans-Dampf-in-allen-Gassen Gerhard Schröder hat mit und für seine Partei einen Pyrrhussieg erschlichen, unfein ausgedrückt, er ist ergaunert worden. Aber das hieße, das politische Geschäft und die Person unstatthaft zu kriminalisieren. Versprechungen und politische Absichtserklärungen von Parteien und ihren Mitgliedern sind und bleiben eben genau dies und sind keine abgeschlossene, einklagbare Verträge mit den Bürgern.

rds

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Fortschritt im Stillstand?

Arbeitslosenzahl Januar 2005: 5,037 Mio.

Arbeitslosenzahl Januar 2006: 5,012 Mio.

"Das Wetter hat eine wichtige Rolle gespielt."

"Im Februar werde die Zahl der Erwerbslosen - weil das in diesem Monat immer so sei - voraussichtlich noch einmal steigen (...)"

Arbeitslosenzahl Februar 2005: 5.216.434

Arbeitslosenzahl Februar 2006:       ?

ICH WEIß KEIN GLÜCK MEHR, DAS ICH WILL, AUßER ARBEIT

Fünf Millionen erwerbslose Menschen und mehr werden in ihrer Existenz als ein aufzulösender Übelstand wahrgenommen und beschrieben, als ein beständiges Ärgernis, anstößig und irritierend im mußelosen und zeitraubenden Geschäft der eigenen Besorgung und Pflege der durch die Berufstätigkeit fast ausschließlich konstruierten und sich bewahrenden Individualität mitsamt ihrer sozialen Anerkennungsverhältnisse. Und mehr werden sie als selbstverschuldete Übelständler klassifizierte, vernebelt wird dagegen die zersetzende Massenarbeitslosigkeit als Zustand bedrohlicher Feindseligkeit innerhalb einer konsensverpflichteten Gesellschaft. Der Umstand, ohne (Erwerbs-)Arbeit und ohne (Erwerbs-)Einkommen zu sein, bedeutet, trotz aller Verunglimpfung als ewiggestrige Sozialstaatsduselei: Korrosion der Individualität durch Exklusion, und Distanzierung der "arbeitenden Mehrheitsgesellschaft" von denen, die keine "produktive Arbeitsleistung" erbringen und "gesellschaftliche Nutzleister" sind, aber lachen, weinen und denken können.

Leben in Arbeitslosigkeit ist nicht gesellschaftsfähig. Nicht nur im Sinne des süßen, alimentierten Nichtstun in der im Eiswind der Globalisierung heftig schwankenden sozialen Hängematte, auf Kosten ausbeutbarer und braver Steuerzahler, sondern als Affront gegen das Traumbild eines sich verselbstständigenden Wachstums - quasi der ökonomische Wiederauferstehungsgedanke als Problemlöser Nummer Eins. Der Aufschwung kommt - der Aufschwung kommt nicht - der Aufschwung kommt, im März, im Mai, im Frühling nach der Winterpause, in diesem oder in sonst einem Jahr. Derweilen erfahren öffentliche Denunziationen und staatliche Zwangsverpflichtungen Massenzustimmung. In der medialen Präsentation von einzelnen Fallbeispielen und ihrer begleitenden Kommentierung, die so richtig emotionalisierend sind und die Volksseele zum Kochen bringen, werden die schwarzen Schafe, auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, bei eigener Duldung und naiver Mithilfe, bloßgestellt und an den Rand erniedrigter Schauobjekte gebracht. Würde hat - entgegen Kant - doch einen Preis, und die ist an einen prosperierenden Arbeitsplatz gebunden. Leistungserschleicher gibt und gab es in allen Schichten, auf allen Ebenen, angesagt ist aber Kollektivhaftung, und die durchdringt als schleichendes Gift den offiziellen wie den privaten Handlungsraum.

Erwerbslose unterliegen automatisch dem Verdacht des sozialen Schmarotzertums, Familien mit Kindern, mit oder ohne Erwerbseinkommen, sind zum potenziellen, Verwahrlosung begünstigenden Kinderschänderhort degradiert, die alle unter die verpflichtende und wiederholbare Begutachtung von Ärzten, Psychologen und staatlichen Behörden und Anstalten gestellt werden sollen. Der Raum staatlicher Eingriffs- und Regulierungsmöglichkeiten ist scheinbar grenzenlos. Jedes ausfindig gemachte Übel, jeder Mißstand, mögen sie nur im einstelligen Prozent- oder gar Promillebereich angesiedelt sein, rufen reflexartig Initiativen hervor, an deren Ende gesetzliche Zwangsmaßnahmen stehen sollen. So entlastet sich die Gesellschaft ihrer unerwünschten Spurenelemente und wird frei für das "rasende Offensivleben" im geizgeilen Wirtschaftswunderplunderland.

Ich weiß kein Glück mehr, das ich will, ... außer Arbeit!

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Alles Gute, Glück, Erfolg, Spaß und immer den Duft des Geldes in der Nase und eiserne Gesundheit, um alles, samt Merkel, Münte und Co., WM und geplatzten Träumen aushalten zu können, wünscht für das neue Jahr 200Sex in steter Erinnerung an Erich Mühsam's allzeit gültiger Ermahnung:"Verlern es, Dich zu fügen! Sich fügen, heißt lügen!"                                                   die querbuerste (rds)

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TIEFKÜHLTEIGLINGE

Als politische Verbalfurzarena mir immer schon verdächtig, entpuppt sich unser mit ehernen Lettern DEM DEUTSCHEN VOLKE geweihtes Parlament auch noch als sündhaft teure Wiederaufbereitungsanstalt für eine selbsternannte Elite auf Kosten des gebeutelten Steuerzahlers. Die Kreislaufwirtschaft scheint geradezu nirgendwo besser und effizienter zu funktionieren, als in der Politik. Bewundere oder beneide ich nun als Nicht-Partizipient diese Galerie von Stehaufmännchen und Tiefkühlteiglingen, deren Qualität darin besteht, ohne spezifisches Qualitätsmerkmal ständig präsent und abrufbar zu sein? Das Konglomerat einer selbsthelfenden Jobmaschine, bestehend aus den Parteien, der Regierung, dem Bundestag und ihren semipolitischen Vorräumen, verschleiert mit ihrer staatstragenden Symbolik die sich ständig bewahrheitende Tatsache: Wir werden, in einer nicht unerkläglichen Anzahl, von Menschen regiert, die "den Staat und seine Ämter als reine Pfründnerversorgungsanstalt" (Max Weber) betrachten.

rds

Die Wiedergänger der deutschen Politik, Peter Dausend, in DIE WELT vom 30.11.2005

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Quelle: obs/Red Adair






"Der Dampfer >Deutschland<. ist in Not. Wird ihn die Flut vernichten? Sprengt ihn sein morscher Kessel tot? Stürmt ihn die Wut des Volks im Boot?- Die Zeitung wirds berichten."                                                      Erich Mühsam, Seenot (1924)



"Wenn es einen Grund für Optimismus gibt, dann ist es jenes Sammelbecken von Nichtwählern, die bereits die drittstärkste Kraft im Lande sind, diese Partei der Überdrüssigen, die dem falschen Spiel, das sich als Politik auszugeben pflegt, bereits den Rücken gekehrt hat." Wolfgang Sofsky, Viel Lärm um Nichts, Signale, Deutschlandradio Kultur, 11. Sept. 2005


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FÜNFHUNDERT MILLIONEN EURO


Hat das jetzt zum Jahresbeginn 2005 nach langem, peinlichen Prozedere endlich angelaufene und bislang störungsfrei funktionierende Mautsystem diese Bundesregierung spenden-toll gemacht? (Spiegel Online 04.01.2005 17:27 - Bundesregierung will Fluthilfe auf 500 Millionen Euro erhöhen)

Diese emphatisch mitfühlende Haltung, mit ihrem wahnwitzig großen Einsprengsel von Generosität, hat mit der momentan gültigen Hitliste der Weltbedürftigen zu tun, die die Flutopfer in Süd-Ost-Asien -und mit ihnen die mehr als tausend vermißten deutschen Urlauber- an die erste Stelle der auch heimischen Aufmerksamkeit katapultierte und die Notleidenden im Süd-Sudan -in Darfur-, im Kongo und anderswo erdenweit in die dunklen, schattigen Plätze dieser Liste abgedrängt hat, dorthin, wo der Scheinwerferkegel der deutschen und internationalen Presse nicht mehr ausleuchtet. Aktualität hat Priorität. Geschehnisse und dazu zählen auch Katastrophen, auch Katastrophen angeblich ungeheuren, biblischen Ausmaßes, sind Material. Ungewertetes, bearbeitbares, barbarisches Rohmaterial, das gedeutet und geformt, mit Sinn oder Fassungslosigkeit umrahmt, in Druckerfarben gesetzt oder in elektronischer Form übermittelt wird. Und das aus einer Katastrophe gezogene und gewonnene Produkt ist nach den gleichen Kriterien und "Gesetzen" der all umfassenden, keine Nische mehr auslassenden Ökonomie vermarktet. Wie Eis am Stil, aber zur Informationspflicht geweiht und überhöht. 

Im personalen Gefühlshaushalt kramt und krämert in den Registern von Betroffenheit, Mitgefühl, Ohnmacht, Ehrfurcht und Demut und wie-konnte-Gott-das-zulassen-Rhetorik - Gott, der nun wieder mal als höchste Quelle von Versicherungsschutz (P. Sloterdijk) desavouiert dasteht- der aufgepumpte wir-sind-eine-Welt-Geist und sucht nach freien Eintragsstellen, um seinen Sinn, seine Deutung anzudienen und seine substanziellen Forderungen einzuklagen. Er jagt die Wiederholung der Wirklichkeit, ihre Wiederholung und ihrer Wiederholung, mahnt, doch endlich ungeknechtet, neu, solitär zu werden, sich dem maliziösen Sog des Negativismus zu entziehen.

Aus welcher Substanz schöpft eine Hilfe, die sich bärenstark gebärdet, zu Gunsten in Not geratener Menschen, außerhalb moralischer und ethischer Kriterien? Fünfhundert Millionen! Aus dem Nichts? Im Aktionismus einer sich überschlagenen Hilfsbereitschaft wird eine fiskalische Stampede losgetreten, die sich aller, als anrüchig deklassierter, Nachfragen nach dem woher, wovon, wohin zu entziehen scheint. Im zugigen Gasthaus wirrer Weltereignisse geht Herr Schröder in Spendierhosen, wie im hauffschen Märchen Peter Munk, ohne jegliches Geld in der Tasche, zechen, in der Hoffnung, das sein Wunsch wirksam wird, die Hosentaschen immer wieder neu voll werden, so oft er auch hineinlangt. Nur im Märchen wirkt dieser Zauber.

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Ausklang 2004

Werden unsere Interessen als Staatsbürger von Nebenerwerbsparlamentariern wahrgenommen und vertreten, die womöglich in untolerierbarer Anzahl, dutzendweise, auf den Gehaltslisten von Siemens, VW, RWE und wer weiß sonst noch welchen Großkonzernen aufgeführt stehen und von diesen gesponsert, alimentiert und entlohnt werden? Haben Parlamentarier nicht auch ihre ganze Kraft zum Wohle und Nutzen des von ihnen vertretenen Volkes einzusetzen? Gleicht es einer Lachnummer, dies von ihnen einzufordern: ihre ganze Kraft? Und damit das Parlamentarierdasein nicht nur als eine willkommene Nebenerwerbsquelle zu betrachten.

Berlin, Paul-Löbe-Haus, Spreeseite, Foto:2004rdsSo röchelt die parlamentarische Demokratie vor sich hin, erweist sich als eine beständige Simulation. Selbst diese ist von der Schwindsucht erfaßt, und dieses Land erscheint als eine gekaufte Republik, in der der letzte Respekt vor den demokratischen Institutionen und ihren gewählten Vertretern versandet. Die wollen lieber gleichzeitig Aufsichtsräte, Übersetzer, Sportförderungsberater, Rechtsanwälte oder gar auch Studenten sein und bleiben, und fortgesetzt ihre Überbelastung -zum Volkswohl versteht sich- beklagen und sich gern bedauern lassen und mißverstanden fühlen.

Niemand zwingt euch, Parlamentarier zu sein! Aber euer Eigennutz und die Nützlichkeit in fremden Diensten und unter fremden Sinn verpuffen im Verlust dieses Status und lassen euch wieder zurück auf euer wahres Zwergenformat schrumpfen.

Anhang: "Gewiß ist die Politik kein ethisches Geschäft. Aber es gibt immerhin ein gewisses Mindestmaß von Schamgefühl und Anstandspflicht, welche auch in der Politik nicht ungestraft verletzt werden." Max Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, Dezember 1917, in: Politische Schriften.

rds

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MEINE SONNTAGE MIT HARTZ IV IM REFORMSPEKTAKEL

Buchtipp aktuell:

Gabriele Gillen, Hartz IV, Eine Abrechnung, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg, Dezember 2004

ISBN 3 499 62044 8, 253 Seiten, 7,90€


Noch eine Polemik. Eine Abrechnung. Eine notwendige.

Vorgelegt nach Wolfgang Herles 229 seitiger deutsch-deutscher Volksküchenkritik über vergiftete und ungenießbare Einheitsrezepte und unfähiger Küchenchefs, tölpelhafter Hilfsköche und dumpf mampfender Volksmäuler, Wir sind kein Volk, die sich einer vielzeiligen publizistischen Aufmerksamkeit und teils heftiger Reaktionen in den ost-west-weiten Redaktionsstuben erfreuen durfte. Wo war der Mann mit dem fernsehbekannten Gesicht, einst Leiter des ZDF-Studios Bonn, nicht überall werbewirksam präsent gewesen? Vom Sender Phoenix, in der von Walter Janson moderierten Sendung Schrifttypen - Autoren und Bücher, bis zum ARD-Live-Auftritt bei der so viel gescholtenen Sendung mit Sabine Christiansen. (Walter van Rossum, Meine Sonntage mit "Sabine Christiansen")

Eine so große Resonanz wie dem ausgewiesenen Berlin-Kritiker Herles ("Berlin ist die Übertreibung dessen, was Deutschland ausmacht." Denn: "Das Land braucht vieles, nur eines nicht: auch noch die Kulturhauptstadt; in der jeder Pups zu Hochkultur erklärt wird, nur weil er Unter den Linden gelassen wird.") wäre Gabriele Gillen mit ihrem gerade frisch im Rowohlt Taschenbuchverlag erschienenen Band Hartz IV, Eine Abrechnung, nur zu wünschen.

Weil berechtigt. Und weil ganz und gar notwendig. Um zur Rückkehr eines Gleichgewichtszustandes im Sinne der Wahrnehmung und Beschreibung eines sozialklimatischen Eiszeiteinbruchs unter der politischen Ägide von RotGrün in Deutschland zu kommen. Widerlegt sie doch das Empfinden, die zähe, sechzehnjährige Kohl-Ära würde in ihrem, im Saldo negativen, Gehalt und ihrem fossilen Politikstil nicht mehr überbietbar sein. Aber RotGrün selbst, als Teil der politischen Klasse, die sich in eine Buchhaltungsabteilung für die Wirtschaft transformiert, werkelt an ihrer Selbstabschaffung im Vollzug eines Paradigmenwechsels, der für eine grundsätzlich andere Verteilung von Einkommen und Macht steht.

Apropos RotGrün. Die Grünen, als die wahre Partei der Besserverdienenden; Zitat: Je sichtbarer die Gesellschaft wieder in Klassen zerfällt, desto eifriger schlagt ihr euch auf die Seite der Gewinner - samt ihres betuchten und elitär geneigten Wählerklientels, erfahren in einem geharnischten, ersten, von insgesamt vier "Briefen", eine gar nicht wohlgefällige Wertung ihres kulturellen und politischen Habitus, denn die Welt interessiert euch nur als Bühne für die Demonstration eurer kulturellen Überlegenheit. Diese Bioläden, Ars Mundi und Manufactum Fun-Shopper im Volvo Biogas Automobil und mit den Solarzellen auf dem Eigenheimdach am grünen Stadtrand, haben so recht gar nichts mit den Montagsdemonstranten gegen Hartz IV gemein. [Der typische Demonstrant gegen das Hartz IV-Gesetz im Sommer 2004 war männlich, um die 50, arbeitslos oder mit einem unsicheren Arbeitsplatz, deutlich links eingestellt und hält den Sozialismus für eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde. Rechtsradikale Stimmungen spielten bei den Demonstrationen keine Rolle. Dieter Rucht, Mundo Yang, Wer demonstriert gegen Hartz IV?, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Mitteilungen 106, Dezember 2004]

Ganz und gar ungalant geht Gabriele Gillen auch mit den Unternehmen um, die zwischen "Benchmarking" und "Rating" ihren Entscheidungsspielraum setzen, aber nur eine Schmierenkomödiantenrolle der "Sorge um Deutschland" spielen. Warum können Siemens, die Deutsche Bank und Daimler Chrysler Deutschland lieben? Letzterer Konzern zahlte mehr als ein Jahrzehnt keinen Pfennig Gewerbesteuer in Stuttgart und Sindelfingen. Siemens bekam im Jahre 2002 349 Millionen Euro Steuererstattung. Und als einen weiteren Fakt führt sie auf: Knapp sieben Milliarden Euro erhielt die Deutsche Bank in Jahr 2000. Und nach einem Rekordgewinn von 9,8 Milliarden (!) Euro im Wirtschaftsjahr 2001/2002 entließ das Bankhaus ungerührt 14 Prozent seiner Mitarbeiter. Das waren 11.000 Arbeitslose mehr.  

Und da wären auch noch die 1,5 Milliarden Euro der insgesamt 2,4 Milliarden Investitionssumme, die die Bundesregierung und der Freistaat Sachsen für die ab 2006 in Dresden Speicher-Chips produzierende AMD (Advanced Micro Devices), für 1000 neue Arbeitsplätze und noch zusätzlich 1.500 in Zulieferfirmen, die, wohlgemerkt, alle entstehen sollen (!), beigetragen haben. New York und Texas, eigentlich anvisierte Standortziele der AMD, gaben wegen Überschuldung keine Zuschüsse. Auch im fernen China winkte man ebenfalls ab.

Der Leser durchwandert, geführt an der robusten, zielstrebigen Hand der Autorin, ein scharf markiertes, schwarzhumoriges und von zornig, nervbohrendem Sarkasmus ausgeprägtes Metaphernfeld. Gratis-Mut kann man ihr nicht bescheinigen. Mut, der im Sinne von Katharina Rutschky meint: Rummaulen und stänkern, wenn es nichts kostet, aber sonst kuschen. Gabriele Gillen punktet sich kampfeslustig durch ihren Text, gerade was das Kapitel Das Umverteilungsprogramm - Die Zurichtung der Menschen auf die Bedürfnisse der Wirtschaft angeht. Nicht nur Journalisten möchten da die laufende Umverteilung von unten nach oben auf jeden Fall von oben betrachten.

Während ein kürzlich vorgelegter, thematisch ähnlicher Titel von Friedhelm Hengsbach, Professor für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt a.M. und führender Vertreter der christlichen Soziallehre; Das Reformspektakel, Warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient; akademisch und in analytisch-distanzierter Sprache denkt, schreibt und schlußfolgert, bleibt Gabriele Gillen mehr dem Duktus einer engagierten Mitbetroffenen und Mitberührten, emphatisch Mitempfindenden verhaftet und mit dem Leser, und ohne moralisieren oder dozieren zu wollen, gleichberechtigt auf Augenhöhe. Der Wirtschafts- und Gesellschaftsethiker Hengsbach schreibt zum Beispiel: Die Erwerbsarbeit ist zwar der Hauptschlüssel gesellschaftlicher Integration, aber nicht der einzige. Insofern ist der derzeitige Tanz der Industriegesellschaft um die herkömmliche Erwerbsarbeit ungesund. Die Würde des Menschen wird nicht durch die Beteiligung an der Erwerbsarbeit hergestellt. Und demokratische Gesellschaften sind keine Horde von Arbeitstieren. Und nennt gleich im Anschluß drei unterschiedliche Arbeitsformen, die seit langem in den modernen, marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften koexistieren: die marktwirtschaftlich und geldwirtschaftlich organisierte Erwerbsarbeit; die private Haus,- Erziehungs- und Beziehungsarbeit; das zivilgesellschaftliche Engagement. Alle drei Arbeitsformen respektieren den menschlichen Faktor ohne Abstriche. Sie sind für die Lebensqualität der Gesellschaft nützlich und notwendig. Bei aller Wahrhaftigkeit und überzeugter Zustimmung zu Hengsbach Ausführungen, welchem von Hartz IV Betroffenen kann das jetzt oder nach dem 1. Januar 2005 glaubwürdig vermittelt werden? Schreibt er doch an anderer Stelle selbst: Die Individualisierung gesellschaftlicher Risiken hat den Willen der beschädigten Personen und Personengruppen gelähmt, sich gemeinsam zu wehren.

Was überhaupt bezeichnet die sogenannte Gesellschaft? Die größte aller Nebeladressen, wie sie von Peter Sloterdijk umschrieben wird? Die unverbindlichste Anhäufung einer Masse von vereinzelten Individuen eines geographisch eindeutig, politisch durch Partikularinteressen ausdeutbaren Gebildes? Ist die Lebensqualität die Summe des größtmöglichen Wohlergehens der größtmöglichen Zahl einzelner Individuen innerhalb dieses stoff- und formvernebelten Gebildes? Am Elastizitäts- und Sicherheitstest droht dieses Gebilde zu scheitern. Weil der gesamte Strukturzusammenhalt bereits gebrochen ist. 

Wie ist die Tatsache zu bewerten, daß ein führender Sozialpolitiker, Mitglied und Bundesvorsitzender der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) seiner Partei, der CDU, und Gewerkschaftsmitglied, jährlich rund 60.000 Euro und kostenlosen Strom von RWE Power, vermutlich ohne jegliche Gegenleistung, beziehen konnte? Hermann-Josef Arentz, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahr 2003 noch zum Blockierer des Jahres "ernannt" hatte, ist auch Autor des 2004 erschienenen Buches, Sozialstaat im Härtetest, "eine scharfsinnige Studie über die Zukunft des deutschen Sozialstaats" (Verlagsankündigung). Im Vorwort schreibt Arentz: Die Ungerechtigkeiten haben ohne Zweifel zugenommen. Die gleichen Manager, die jeden Tag Spar-Appelle an ihre Mitarbeiter richten, stopfen sich im Schutz der Anonymität ihrer eigenen Gehälter die Taschen voll. Ein klassisches Beispiel eindimensionalen Denkens und nicht mehr erweiterungsfähiger Denkungsart? Oder viel eher ein Beispiel von "Sittenwidrigkeit" und "Korruption"! So jedenfalls kommentierte der Bundestagsabgeordnete Dieter Wiefelspütz in einer Sendung des WDR-Fernsehens am 15. Dezember die "Arentz-Affäre. Erst der Mensch, dann der Markt. Der Mensch ist wichtiger als die Sache. Diesen CDA-Leitsatz hat Arentz anscheinend auf seine sehr persönliche Weise zu interpretieren und umzusetzen gewußt.

Aber Vorsicht! Immer, wenn die Frage nach Sinn und Berechtigung von Privilegien empört aufgeworfen wird, wird sofort von den Ertappten und den noch Unentdeckten N e i d! geschrieen. Nein; formlich gebrüllt, so daß in jedem Frager und Widersacher sofort Zweifel an der eigenen Kampf- und Fluchttauglichkeit aufkeimen muß. Das Neid-Argument ist d e r inflationär gebrauchte und meistverbrauchte Diskussionsblocker und Diskurskiller schlechthin. Gabriele Gillen wird also um die Argumentationslinien- und Logik der neoliberalen Katecheten wissen, wenn sie ausdrückt: Das tatsächliche Wachstum der Wirtschaft wird von einer kleinen Schicht kassiert und von der großen Masse der Gesellschaft bezahlt. 

Daß dies den Tatsachen entspricht, stellt auch der erste Armuts-und Reichtumsbericht der Bundesregierung -Lebenslagen in Deutschland- heraus. Das Kapital hat sich dagegen aus der Finanzierung des Staates mit ausdrücklicher Duldung und Förderung durch die Politik zurückgezogen und damit auch die Krise der sozialen Sicherung verschärft. Der Staat bereichert die Besserverdienenden nicht nur durch Steuerverzicht, sondern auch durch Zinszahlungen an diese Gruppe, die infolge der Kreditaufnahme zur Deckung der Finanzlücke fällig werden. Dies ist ein bemerkenswerter Kreislauf. Die Kosten für die staatlich inszinierte Umverteilung bezahlen am Ende die Lohnsteuerzahler und die Verbraucher.(...)

Hohe Einkommen erlauben eine hohe Vermögensbildung und diese wiederum hohe Einkommen. Daher verwundert es nicht, wenn die Reichen immer reicher werden und die Schere bei den Vermögen noch größer ist als bei den Einkommen. (...)

Die im Vergleich mit den Einkommen im Ergebnis doppelt so starke Konzentration der Vermögen in Deutschland ist keineswegs bloß das Ergebnis von Fleiß und Leistung, sondern auch von Steuerpolitik und Steuerpraxis. Ernst-Ulrich Huster und Dieter Eissel -Forschungsprojekt- Reichtumsgrenzen für empirische Analysen der Vermögensverteilung, Instrumente für den staatlichen Umgang mit großen Vermögen, Ökonomische, soziologische und ethische Beurteilung großer Vermögen, Oktober 2000

Ein zweiter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist angekündigt und in Vorbereitung. Auszüge daraus sind an die Öffentlichkeit durchgesickert und deuten keine gravierende Kehrtwende in den bisherigen Zustände an, eher eine Verfestigung und Verschlimmerung zu Lasten der Benachteiligten. Mit seiner vollständigen Veröffentlichung ist aber wohl erst nach den wichtigen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen zu rechnen.

In Deutschland - Der Abstieg eines Superstars dozierte Gabor Steingart gedankenspielerisch über den ökonomischen Nutzwertfaktor eines Menschen, repräsentiert und ausgedrückt durch seine jeweiligen Lebensphasen und ganz auf das gängige Bild vom homo oekonomicus verengt. Im Kindes- und Jugendalter ist der ökonomische Nutz- und Arbeitswert ebenso wirkungslos und unproduktiv, wie er nach einem -hoffentlich langen und arbeitsreichen- Erwerbsleben, der eigentlichen zeitgemäßen Sinnstufe des Menschseins, verpufft ist und ausgebrannten Brennstäben aus einem Atomkraftwerk gleicht: Man muß sie entsorgen (zwischenlagern) und ihn, den Energie entleerten Arbeitsmenschen, bis zum, dank medizin-technischen Fortschritts, hinausgezögerten Ableben durchfüttern. Erste und dritte Lebensphase verursachen nur Kosten, sie gehörten aus rein wirtschaftlichen Gründen abgeschafft. Nur umfassende Erwerbsfähigkeit garantiert altersgültige Vollwertigkeit.

Mit ihrer "Abrechnung" verfaßt Gabriele Gillen eine Zustands- und Gefühlsbeschreibung aus proanwaltschaftlicher Perspektive der sich im Straßenprotest müde gelaufenen Betroffenen, die sich weiterhin wehren und die über die bereits bekannten Proteste und Protestformen hinausgehen wollen. Aber wie weiter, wenn man -wenn Mensch- in einen unfreiwilligen, schuldlosen schicksalhaften Zustand hinein manövriert worden ist, aus dem heraus, erst einmal darin gefangen und kaltgestellt, keine Macht, kein Einfluß, kein Droh-, Durchsetzungs- und Gewaltpotential mehr erwachsen kann und das einzige Potential, das man noch besitzt und auf das man zurückgreifen könnte, die eigene Arbeitskraft, wirkunglos und unbeachtet bleibt? "Plötzlich ist man nichts mehr wert." Resignation und Fatalismus werden so zu natürlichen Begleitern. Menschen in guten Anzügen, mit Macht und Geld wirken einfach glaubwürdiger, wenn die Hoffnung auf Arbeit und Teilhabe das Wichtigste sind.

Sich dagegen mobartig, plebejisch zusammenraufen und Steine und Brandfackeln auf das kathedral-betonierte Kanzleramt in der rheinisch besetzten Zone Berlin schleudern? Den Protest und den Widerstand radikalisieren? Auch Demokratien regulieren die Wirtschaft nicht mehr, sondern schaffen nur noch weitere Voraussetzungen für den entfesselten Kapitalismus, schreibt Gillen. Und sie fährt an anderer Stelle fort: Es muß nicht so weitergehen: Nein, keine dauerhafte Spaltung der Gesellschaft in eine schrumpfende, halbwegs bezahlte Beschäftigungsschicht und die riesige Unterschicht der gerade noch Ausgehaltenen. Wir können die Arbeit umverteilen, wir können -zunächst auf europäischer Ebene- ein gemeinsames und gerechtes Steuersystem einführen. Von oben nach unten umverteiltes Geld, das wir dann in Bildung und Kultur und die Würde aller investieren. In Ganztagsschulen und Universitäten, die auch in Zukunft nicht nur für den Markt ausbilden. In Musikerziehung und Kindergärten, in denen Selbstbestimmung und Kreativität und auch das soziale Weltwissen gelehrt und eingeübt werden. In neue Wohnprojekte für neue Familienformen. In erneuerbare Energien und einen kostenlosen Nahverkehr für alle. In den öffentlichen Reichtum eben. Und wir können mit weniger Konsum leben und deshalb mit weniger Geld, dafür aber mit mehr Zeit für Freunde und Bücher und für die Sehnsucht. Wir haben die Wahl. Die Ideen, die Träume sind noch nicht ganz verloren. Oder doch?

Die Ideen sind nicht verloren, aber als ökologisch und ökonomisch versponnen gebrandmarkt, als weltfremd sozialromantisch denunziert, realitätsfern, esoterisch entrückt, fundamental urgrün und kirchentags bewegt, und sie haben seit dem historischen Versagen von SPD und Gewerkschaften ihre natürlichen Mitstreiter in dem breiten Netzwerk, das sich der neoliberalen Mafia entgegenstellt und diese Ideen zu verwirklichen mithilft, verloren. Aber immerhin sind sie von Grund auf ehrlicher als die Position eines neorechten Gutmenschen aus der millionenschweren Fraktion des kulturellen Milieus wie Günter Grass einer ist. Mitunterzeichner einer ganzseitigen Zeitungsanzeige, "in einer großen Koalition der Vernunft", fungierte er zwei Jahre zuvor, in 2002, neben Daniela Dahn und Johano Strasser, noch als Mitherausgeber und als Nebenautor des schwergewichtigen Titels: In einem reichen Land - Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft (Neuauflage 2004). Es ist dies die angelehnte, deutsche Version eines zuvor von Pierre Bourdieu in Frankreich erfolgreich herausgebrachten Werkes. In dem kleinen Essay ZULETZT führt Grass aus: Wie aber ließe sich das erfolgreiche Allgemeinverständnis zurückliegender Jahrzehnte, der Sozialstaat, erneuern? Das wird nur möglich sein, wenn sich die Politik wieder handlungsfähig macht und mit dem Bundestag als Gesetzgeber der Wirtschaft und deren mächtiger Lobby gegenüber fordernd, gegebenenfalls strafend auftritt. Steuerflucht, Bilanzfälschungen, Mißmanagement, das Kapital und Arbeitsplätze vernichtende Irrsinnsspiel der Börse, all das und die ungehemmte Sucht nach schnellem Profit haben das nunmehr alleinherrschende kapitalistische System, und mit ihm die sich frei nennende Marktwirtschaft, weg von den eigenen Prinzipien zu einem Selbstzerstörungsprozeß verleitet, dessen Folgen mit Vorzug der spärlich bemittelte Teil der Gesellschaft, Arbeiter und Angestellte, alte Menschen und Kinder, zu spüren bekommen. Deshalb kann nur die Zivilisierung des außer Kontrolle geratenen Kapitalismus einige Voraussetzungen dafür schaffen, daß soziale Gerechtigkeit wieder zum Maßstab politischen und wirtschaftlichen Handelns wird.

War das einmal Günter Grass? Wer ist der Günter Grass von heute? Immer noch als das Pfeife rauchende Gewissen der Sozialdemokratie (Carsten Volkery, Spiegel) und als kurzfristig engagierbarer Wahlkampfhelfer der SPD unterwegs, wie sein von stehenden Ovationen begleiteter Auftritt am 7. Januar in der Holstenhallte in Neumünster, zusammen mit MP Heide Simonis, zeigt.

So wie die Unterschriftenleistung des Literaturnobelpreisträgers Grass unter einer Zeitungsanzeige nicht unbemittelter Mitbürger den Einen oder Anderen verstört haben mag, so rückt Gabriele Gillen den neuen Bundespräsidenten -ein neoliberaler Globalisierer und Finanzbeamter ist Deutschlands Bundespräsident geworden (...) unser ökonomischer Leitcharakter- in einen kritischen Blickwinkel. Aufhänger ist u.a. ein Focus-Interview im September 2004, in dem die Autorin inhaltlich die grundgesetzlich garantierte "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" (Artikel 72 GG) angegriffen und in Frage gestellt sieht.

Aber dies allein ist es nicht. Die kritische, zuweilen feindliche, Position Horst Köhlers gegenüber macht sich auch am beruflichen Werdegang und Wirken des promovierten Wirtschaftswissenschaftlers fest, der bis zu seiner Nominierung zum Bundespräsidenten als Geschäftsführender Direktor des IWF tätig war. Bei solch einer Person erscheint es als glaubhaft, den Abbau des Sozialstaates mit dem Weihwasser des angeblich überparteilichen Bundespräsidentenamtes zu heiligen.  

(Der von CDU/CSU und FDP auf den Schild gehobene Wirtschaftspräsident Horst Köhler hat in kaum verhüllter Parteilichkeit die Ermutigung zu weiterem Reformeifer mit jener Politik in Verbindung gebracht, für die Margaret Thatcher als Symbol einsteht. So Oskar Negt in seiner Streitschrift Wozu noch Gewerkschaften? über die vermuteten Intentionen des neuen Bundespräsidenten.)

Gillens Buch ist also keine von kühler, berührungsängstlicher Distanz und ausschließlich sachorientierter Nüchternheit getragene Faktensammlung- und Fakten legt sie reichlich vor- noch eine nur reflektierende Bestandsaufnahme der durch Hartz IV in Umbruch gebrachten sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik, einer Republik, die sich 1990 nicht (wieder-)vereinigt, sondern durch Anschluß des Ostens vergrößert hat. Sie stellt Hartz IV innerhalb der wirkenden Lebenszusammenhänge konkreter Individuen dar. Eine solche Beschreibungsebene hat nicht die Wirkung eines intellektuell snobistischen, diskursiven Placebos, sondern ist aufgeregt, aufregend, erzürnend, zornig.

Wie noch einmal formulierte die Autorin auf einer ihrer letzten Buchseiten, im Schluß- und Anfangswort? Kinder können in Fragen leben, Erwachsene leben lieber in Antworten. Denn in Antworten leben, heißt: fraglos die Ordnung akzeptieren.

rds 

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Foto: 2004rds





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